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Leseproben • Drama
aus: DOTTORE GIOVANNI
(Einakter)
Voraus geht Szene 1:
Der pensionierte Gymnasialprofessor bei einem Abstecher mit Rührung in seinem frühesten Schuldienstort.
Er bestellt sich - in Erinnerung früherer Zeiten - beim Kellner der Bahnhofsgaststätte ein Beuschel (+) und erzählt ihm in einem Redeschwall Platitüden seines scheinbar harmlosen und erfüllten Lebens.
(+) Ragout aus Lunge und Herz vom Kalb. Es wird mit einem Semmelknödel in einem tiefen Teller serviert.
Szene 2.
Sonniges Bahnsteiglokal eines Kleinstadtbahnhofs, der an Bedeutung verloren hat. In gebirgiger Gegend. Der Professor, auch als Pensionist noch ein ansehnlicher Mann, sitzt an einem der Tische und erwartet zufrieden das Bestellte. Vor sich hat er ein Glas Wein.
Nach einer kleinen Weile tritt eine sportlich-chic gekleidete Dame auf, etwas kleiner als der Professor, aber auch jünger. Doch um wie viel? Und durchaus attraktiv.
Sie läuft auf und ab, bemerkt den Professor. Der lächelt sie an.
Sie schaut zum freien Tisch, überlegt, ob sie überhaupt Platz nehmen soll. Der Professor lässt sie nicht aus den Augen.
Dann setzt sie sich plötzlich nieder.
Die Bedienung bringt dem Professor das bestellte Beuschel.
Kellner: | Gnädige Frau? |
Sie: | Einen Espresso, bitte. |
Der Kellner verneigt sich, geht ab.
Sie steckt sich eine Zigarette an, raucht.
Der Professor beginnt zu essen, lächelt zu ihr hinüber. Obwohl sie es nicht will, schaut sie immer wieder zu ihm. Dann:
Sie | verächtlich: Beuschel! |
Professor: | Weinbeuschel. Wie man es hier seit eh und je serviert: Excellent! |
Sie: | Sie sind hier daheim? |
Professor: | Nein. Nein, gar nicht. Das blieb mir erspart. |
Sie: | Aber Sie kennen sich aus. Jedenfalls, was das Beuschel betrifft. |
Professor: | Erinnerungen... |
Sie: | Außer dem Beuschel treibt Sie nichts auf den Bahnhof. Oder reisen Sie ab? |
Professor: | Ich reise nicht ab. Noch nicht. |
Sie: | Aha. |
Professor | nach einer Weile Schweigens: Von Bahnhöfen geht eine eigenartige Faszination aus. Finden Sie nicht? Es kommen Züge, andere gehen ... |
Sie | ironisch: Die einen bringen Menschen, andere führen sie weg. |
Professor: | Jaja. nach einer weiteren kleinen Weile, sicher: S i e reisen nicht. |
Sie | überlegt, ob sie es sagen soll, dann entschlossen: - Ich erwarte mein Enkelkind. Hab mich erheblich verfrüht. |
Professor: | Sie sind von hier. Es ist schön hier ... |
Sie: | Ich weiß nicht, ob es mir hier gefällt. Ich weiß nicht, ob mich überhaupt jemals irgendein Ort fasziniert hat. |
Professor: | Ich sprach nicht von Faszination. Nicht in diesem Zusammenhang. Ich meine: Sie mögen den Ort. |
Sie: | Enkelkinder zum Beispiel, die mag ich. |
Professor: | Enkelk... Solche Erkenntnis, meine Dame, verwehrte mir leider das Leben. Da fehlt mir nun jede Erfahrung, ... |
Sie | mustert ihn: Ihnen blieben Kinder erspart. |
Professor zuckt freundlich lächelnd die Schultern.
Der Kellner bringt der Dame den Kaffee.
Kellner: | Der Espresso, bitte die Dame. Ab |
Nach einer Weile:
Professor: | Deshalb also besuchen Sie am helllichten Tage ein Bahnhofslokal. Um das Enkerl am Zug zu empfangen. Sehr nett. - S i e sind hier zuhause. Darf ich vermuten. |
Sie: | Eine Wohnung hab ich hier. Wenn Sie das meinen. Doch zuhause? Wo bin ich zuhause? Hier jedenfalls nicht. - Früher habe ich hier einmal richtig gewohnt. Ja. "Als die großen Züge noch hielten." Heute rauscht der Intercity hier durch. Mein Enkel muss den regionalen Zug nehmen. |
Professor | interessiert: Früher, sagten Sie, haben Sie hier gewohnt. Nun tun Sie es wieder?
Es zieht Sie hierher. |
Sie | nicht vollends verneinend: Sagen wir so. Ich kann hier einen Teil meiner freien Tage
verbringen. Und eben auch mal mit Enkeln allein sein. |
Professor: | Mit den Enkeln. Sie dürfen sich an deren mehreren freuen? |
Sie: | Eins reicht mir. Dennoch macht es mich glücklich. |
Professor: | Ein Enkelkind. Erstaunlich ... Wenn ich so überschlage ... |
Sie: | Überschlagen Sie nur. Das ist eine einfache und rasch zu bewältigende Rechenaufgabe: Zwölf plus sechsundzwanzig plus vierundzwanzig. |
Professor: | Die Summe hätte ich niedriger angesetzt. |
Sie | bissig: Charmeur. |
Professor: | Dennoch: Junge Mutter. Beizeiten gefreit ... |
Sie: | Nie gefreit. Wenn Sie das meinen. |
Professor: | Trotzdem erstaunlich. Dochdoch. Oder gerade deswegen. Mit Verlaub. |
Sie: | Zerbrechen Sie sich meinetwegen nicht den Kopf. Wir stellen uns alle mal vollkommen überflüssige Fragen. - I c h frage mich - obwohl mich die Antwort schon jetzt rundherum kalt lässt: Wie kann ein Mensch, der hinreichend intelligent zu sein scheint, ein Beuschel essen? Glauben Sie, das tut Ihnen gut? |
Professor: | Ach, was tut einem gut, gnädige Frau? - Ich habe früher eher selten In einem Wirtshaus etwas gegessen. Nur etwas trinken habe ich mögen. Im Grunde habe ich überhaupt Nicht gerne gegessen. Freilich hat mich dann doch Hin und wieder auch der Hunger Ins Wirtshaus getrieben. - Ich komme ins Plaudern. |
Sie | unterbricht ihn, direkt: Sie lebten damals allein? |
Professor: | Das ja nun nicht. Doch nicht gebunden. Lange nicht. - Heute Gebietet mir der Verstand: Iss etwas, wenn du etwas Zu trinken gedenkst. Auch ich bin älter geworden. Früher hab ich gesagt: Ich gehe Auf ein Getränk. Und hab es Auch so gehalten - Heute Meine ich´s auch so. Doch Esse ich eben etwas dazu. |
Sie: | Sie sind Lehrer. |
Professor: | Lassen wir das. |
Sie: | Ihre Art, sich auszudrücken - etwas zu erklären, was sich nicht entschuldigen lässt... |
Professor | bleibt charmant: Wein muss sein. Ich habe an vielen Orten gelebt. Doch zurückkehren würde ich - das stand für mich allezeit fest - Nur an einen solchen, wo der Wein Zur Kultur des Alltags gehört. |
Sie: | Und da sind Sie nun wieder. |
Professor: | Ja. Ohne Wein Ist Leben kein Leben. |
Sie: | Ohne Wein. |
Professor: | Ich muss spüren, dass ich am Leben bin, Muss es schmecken. Verstehen Sie, Wie ich es meine? |
Sie: | Und Schmecken genügt Ihnen? Heute? - Sie erinnern mich ... |
Professor | ein wenig eitel, doch arglos: Ich erinnere Sie. Oh ...
An eine Romanze? An diesem Ort? |
Sie: | Eine Romanze? Nein. |
Sie wechselt mit ihrem Kaffee an den Tisch des Professors, bleibt aber zunächst stehen.
| An ein Verhängnis. An Mein großes Verhängnis. |
Sie setzt sich und schaut dem Professor in die Augen.
| Blond war er. Strohblond. Kraus das Haar. Was sage ich kraus? Wehend. Lodernd wie Feuer. Sein Auftreten drahtig. Und lässig Zugleich. Seine Kleidung Nicht schmuddelig, nein - Dass ich Ihnen nur ja kein Bild Von ihm zeichne, das ihn nicht trifft. Seine Kleidung - als lege er keinen Wert Auf seine Erscheinung. Doch jede Scheinbare Nachlässigkeit war bei ihm Inszeniert. Dekoration! Noch gab es an jener Schule Niemanden, der es wagte, Bluejeans zu tragen. Den Schülern war es verboten. Er brach mit der Ordnung. Ganz Nebenbei, als spüre er gar nicht, Dass er die geltende Regel verletzt. Keiner wagte, es zur Kenntnis Zu nehmen. Sie seufzt. Und Die Mädchenherzen flogen ihm zu. |
Professor: | Sie waren keine Schülerin! |
Sie: | Auch die Kolleginnen legten sich Ihm zu Füßen. Und nicht nur Zu Füßen. Wenn, ja wenn er Es ihnen erlaubte. Erhört Hat er ja eigentlich nur Die ganz jungen. |
Professor: | Sie hat er dennoch ...? |
Sie: | Als Lehramtskandidatin War ich an seine Schule gekommen. Ein junges Ding, blutjung und Ganz und gar unerfahren. Ich war ihm verfallen, Als ich ihn sah: Dottore Giovanni! So nannten sie ihn. Ordinarius Für Latein u n d Italienisch! Ich durfte dann Hans zu ihm sagen. Jungferntod war der Name, Den die Kollegen ihm gaben, Wenn er abwesend war. Diese Bezeichnung, So sehr sie zutreffen mochte, Gebar der Neid. Gerne, Allzu gern wären sie In seiner Lage gewesen. Uns Betroffene schreckte Die Vokabel nicht ab. Nichts, nichts hätte uns Zu hindern vermocht, Vernarrt und geil, Wie wir waren, Verblödet - Latein u n d Italienisch - Allein schon diese Kombination! |
Professor: | Und Sie? |
Sie: | Ich? - Sport und Deutsch. |
Durchsage: | Achtung Gleis 1. Der Regionalzug aus ..hagnfurt, planmäßige Ankunftszeit 12 Uhr 27, verspätet sich voraussichtlich um zirka 20 Minuten. |
Sie: | Da haben wir den Salat. |
Professor: | Die Bahn will: Ihre Seele soll sich einmal all dessen entledigen, was sie beschwert. |
Sie: | Sie soll. Soll ich? |
Professor: | Die Gelegenheit dafür ist einmalig. Jemand ist auf der Durchreise, hört Ihnen zu, begräbt, was er hört, in sich und nimmt es mit sich davon. Sie haben ja schon damit begonnen. Und es ist ausgesprochen angenehm, Ihnen zuzuhören. |
Sie | rührt im Kaffee, sieht den Professor an, dann trinkt sie den Kaffee auf einen Schluck aus, winkt dem lauschenden Kellner, der kommt: Einen Grappa. Doppelt. zum Professor Sie auch? |
Der Professor wehrt ab, zeigt auf seinen Wein. Kellner ab.
Sie: | Viel mehr gibt's da nicht zu gestehen ... |
Der Professor nimmt demonstrativ die Haltung eines Zuhörenden ein; er lässt sie kommen.
Sie: | Italienisch, sagte er immer, Kann man nicht lernen, Ohne dass Italien selbst In einem spricht. I n Hat er gesagt - nich etwa: zu! Und Um Italien sprechen zu lassen, Nützte er das Vorhandensein Eines Kleinwagens wie Die geringe Entfernung zur Grenze. Die jeweils Erwählte Lud er hinein und Kutschierte sie ins "Paradies". In den Wohl immer selben Landgasthof Zwischen Udine und Cividale. Und wenn sie ihm dann erlag, "wenn alle Zeit Gegenwart ist" - So pflegte er es zu nennen Er sagte es jeder. Ich Habe das recherchiert. Es war nicht ohne, Muss ich gestehen. Ich glaubte von nun an, Italien zu kennen Und i h n. Ich hielt mich Für von ihm geliebt. Weil er sich mir kleinem Ding Zuwandte, mir seine Zeit, Seine Gnade gewährte, Die Kraft seiner Lenden. Das abends, nachts Und bei Tag. |
Der Kellner bringt den Grappa. Sie trinkt sofort die Hälfte. Kellner ab.
Sie: | Ich hatte das nie erlebt Und erlag so dem Trugschluss: Umgekehrt könnte es ebenso sein. M e i n e t wegen könne er sich Derart verlieren. Das war ungewohnt, Aufregend, neu. Ich hatte mich - sozusagen - Selbst überwältig. Dann kam, was nun Tatsächlich neu war: Ich wurde schwanger. Unser gewiefter Freund Giovanni Wusste nicht, wie man dieses Vermied. Stellen Sie sich vor, bester Herr: Junger Professor Schwängert anbefohlene Praktikantin. Und das in der Kleinstadt. Die Marktgemeinde Hätte ihren Skandal, an dem Endlich einmal keiner ihrer Angestammten Bürger beteiligt. Also: Ich hielt meinen Mund. Er blieb; ich verschwand. Und niemand erfuhr, was geschah. Die Ausbildung brach ich ab. Ich bekam das Kind Und hatte nun nur noch Herauszufinden, wie ich es Und mich durchbekam. |
Professor | betroffen: Und er ... ? |
Sie: | So war es m e i n Kind. Nicht seines. Mein kleiner Triumph. Sie kippt den Rest des Grappa. Sie entschuldigen mich. |
Die Sie erhebt sich und geht zur Toilette. Der Professor sieht ihr nach. Man sieht, dass der Grappa ein ganz klein wenig seine Wirkung tut.
Der Professor nippt am Wein, winkt dem Kellner. Der kommt.
Professor: | Ihnen ist die Dame bekannt? |
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